Text von Dr. Martin Steffens zur Ausstellung RErenaissance

Ulrike Dornis‘ aktuelles Schaffen hat sich jüngst überraschenderweise dem Figurativen zugewendet. Ihr malerisches Oeuvre war ursprünglich von architektonischen Motiven und Stillleben gerägt. Anschließend hat sie sich in der Serie „Arabesque“ über mehrere Jahre hinweg einer einzigen Textilie und damit zugleich abstrakt-malerischen Fragen und Problemlösungen gewidmet. Dafür boten die Muster eines ägyptischen Tuchs eher den formalen Vorwand. Nun also stehen menschliche Gestalten im Fokus ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Dies scheint heutzutage kaum mehr zeitgemäß zu sein, stellt sich doch auch im 21. Jahrhundert weiterhin die Frage, welche Rolle handwerklich ausgeführte Malerei in einer digitalisierten Welt spielen kann. Und bei klassischer Figurenmalerei scheinen Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines solchen Projektes noch einmal mehr begründet. Entpuppt sich das Projekt von Ulrike Dornis von daher als ein provokanter Anachronismus? Oder ist er nicht doch eine notwendige und dezidiert zeitgenössische Möglichkeit zur künstlerischen Äußerung?

Ulrike Dornis bemüht sich, Malerei als ihr ureigenes, vertrautes Medium immer wieder neu zu erfinden, ohne dabei Traditionen aus dem Auge zu verlieren. Die Malerin arbeitet nun ganz im Sinne akademischer Malerei mit Modellen. Diese werden von ihr gleichsam als Medium genutzt, Haltungen und Emotionen im Nachvollzug zu erarbeiten. Dieses künstlerische „Hilfspersonal“, das etwa auch Gustav Klimt wie selbstverständlich und in großer Zahl in seinem Atelier zur Verfügung stand, wird von Dornis eher als gleichberechtigte Akteure eingesetzt. Ihre weiblichen Modelle sind nämlich aufgefordert, Motive und Haltungen aus dem kunsthistorischen Erbe zu „reinacten“. Die Frauen sind nicht nur Gliederpuppen, um Proportionen und Schattenverläufe zu klären sondern interagieren vielmehr mit der Künstlerin und dem historischen Bildgedächtnis.
Die Malerin recherchiert in diesem Prozess anfangs Bildmotive, in denen starke Haltungen und Emotionen zum Einsatz kommen. Intensive menschliche Konstellationen und körperliche Komposition spielen bei der Auswahl als Kriterien eine entscheidende Rolle. Die ursprünglich dargestellten religiösen oder mythologischen Sujets sind dagegen weniger von Interesse. Nur nebenbei gesagt, boten sie schon in der Entstehungszeit für Malerinnen und Maler häufig nur einen Vorwand (nackte) Körper zu zeigen oder spannungsvolle Beziehungen zwischen den gemalten Protagonisten aufzubauen. Erfolgreiche Bilderfindungen in der Historienmalerei haben sich immer schon durch die Schilderung allgemeingültiger menschlicher Beziehungen ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Als Beispiel sei hier nur Michelangelo Caravaggio genannt, der Heilige durch Menschen von der Straße darstellen ließ und von daher eine ganz neu Eindrücklichkeit gewann.

Die Gemälde, die Dornis nun für sich als Anregung auswählt, entstammen der Zeitspanne zwischen Renaissance und Impressionismus. Die aktuell engagierten „Modelle“ werden im Prozess mit dem recherchierten Bildmaterial konfrontiert und reagieren spontan, indem sie diese im Sinne eines „Tableau vivant“ nachstellen. Da die Frauen zum Teil ausgebilete Schauspielerinnen bzw. Performerinnen sind, erscheinen ihre Posen als engagierte Neuinterpretationen der Vorlagen, die das gezeigte nicht kopieren sondern neu deuten. Dies entspricht nebenbeigesagt auch der Tradition der Bildstelllung, die um 1800 besonders beliebt war und den emotionalen Gehalt etwa von Raffales Sixtina für die Beteiligten eindrücklich erfahrbar werden ließ. Dabei wird im Atelier von Ulrike Dornis im Grunde die Ausgangssituation des ursprünglich mit Hilfe von Modellen entstandenen Gemäldes noch einmal neu nachvollzogen und so möglicherweise unmittelbarer verständlich. Wie wirkt eine ursprünglich biblische Szene, wenn die Akteurinnen alle weiblich sind und bewusst in schlichter, moderner Alltagskleidung auftreten? Wie motivieren sich auf den ersten Blick überengagierte Gesten in einem profanen Kontext? Historiengemälde sind bei Ulrike Dornis der Historie verlustig gegangen und entfalten dennoch – oder gerade deswegen – eine unmittelbare Wirkung!

Den Betrachtenden vermittelt sich spontan eine Inkongruenz zwischen der aufgeladenen Atmosphäre und fehlender Kontextualisierung durch Kostüm, Raum und Requisit. Eine Judith, die einem (nun weiblichen) Holofernes den Kopf abzuschneiden scheint und dabei triumphierend aus dem Bildraum herausblickt, erzählt nun von einer ganz neuen und möglicherweise sogar gewalttätiger empfundenen Auseinandersetzung – können wir doch deren Kontext und Ursache nicht direkt „lesen“. Hier wird der zeitliche „Gap“ zwischen der antiken Handlung, der Komposition und Interpretation durch den Renaissancekünstler mit unserer heutigen Wahrnehmung als Re-Rekonstruktion ersichtlich. Als Resultat erleben wir im Bild Menschen unserer Gegenwart in Situationen, die von starker Setzung geprägt sind: Menschen, die intensiv miteinander interagieren und dies mit einer Selbstverständlichkeit tun, die niemals den Eindruck aufkommen lässt, dass hier der Zufall waltet oder eine beliebige Szene abgebildet worden sei.

Dr. Martin Steffens

Mit leichter Hand
Ulrike Dornis inszeniert eine 
Choreographie der Bewegungen, 
die grazil und bodenständig 
zugleich erscheint

Ältere (westdeutsche) Semester dürften sich an den TV-Klassiker »Was bin ich?« erinnern. Dieses »heitere Beruferaten«, moderiert von Robert Lembke, lief von 1961 bis 1989 im Ersten Deutschen Fernsehen. Jede Quizrunde begann damit, dass der Kandidat (der später auf Fragen der Rate-Experten ausschließlich mit »Ja« oder »Nein« antworten durfte) aufgefordert wurde, eine für seinen Beruf typische Handbewegung zu machen. Der Clou dabei: Diese Bewegung musste einerseits spezifisch genug sein, um mit einem bestimmten Arbeitsgebiet in Verbindung gebracht zu werden; andererseits durfte sie aber auch nicht allzu verräterisch ausfallen, denn dann hätte das Quiz 
seine Spannung verloren.

In einer jüngst entstandenen Bilderserie von Ulrike Dornis erfährt die »Was bin ich?«-Pantomimik ein Comeback im Genre der Malerei. »Fleißige Frauen«, so lautet der Titel dieser Gruppe. Die verhältnismäßig kleinformatigen Bilder zeigen junge weibliche Gestalten, die ebenfalls eine typische Handbewegung machen, ohne dass der Betrachter auf Anhieb erkennt, um welche Tätigkeit es geht. Zumindest gilt das für die meisten dieser vor dem Modell entstandenen Studien. Der Grund: Die Objekte, die da ursprünglich gebunden, gehalten, gelenkt oder gewrungen wurden, hat Dornis aus der Darstellung sorgsam ausgespart. Die Hände greifen gleichsam ins Leere. Was kein Drama wäre. Denn dieses Vakuum könnte mehr oder weniger mühelos gefüllt werden durch Assoziationen, die mit simplen handwerklichen Verrichtungen verknüpft sind. Das Besondere dieser Bilder besteht jedoch darin, dass sich die ursprünglich zielgerichteten Gesten von ihrem Zweck gelöst haben, dass die Künstlerin mit scheinbar leichter Hand eine Choreographie der Handbewegungen inszeniert, die grazil und bodenständig zugleich erscheint.

In sich gekehrt

Die »Fleißigen Frauen«, die Ulrike Dornis vor einem sparsam bestückten oder gar blanken Hintergrund agieren lässt, suchen nicht den Dialog mit dem Betrachter. Ihre Augen sind abgewandt. Sie ruhen in sich selbst, sie sind in ihr Tun mit einer stillen, fast andächtigen Konzentration vertieft, die an Jan Vermeers in sich gekehrte Frauendarstellungen denken lässt, etwa an seine »Dienstmagd mit Milchkrug« oder die »Briefleserin am offenen Fenster«. Anders als bei Vermeer haben wir es hier aber nicht mit ziselierter Feinmalerei zu tun. Ganz im Gegenteil:
Mit spontanem, skizzenhaftem Pinselstrich sind diese modernen ‘Mägde’ wiedergegeben. Das gibt ihnen trotz ihres meist eher introvertierten Charakters eine gewisse Dynamik.
Übernimmt die Sprache der Hände in der Serie der »Fleißigen Frauen« einen wichtigen Teil der bildnerischen Kommunikation, so gilt das erst recht für die Installation »Arrest«, bestehend aus einem Hauptbild, einem Mittelformat und fünf kleineren Leinwänden. Hier hat Dornis in der Tat den Händen auf die Hände gesehen. Im Spannungsfeld von Figur und Ornament – seit je ein zentraler Bestandteil ihrer Malerei, in der die Arabeske eine Vielzahl von schillernden Variationen erfährt – entfaltet sich eine Szenerie, die inhaltlich nicht ohne weiteres zu entschlüsseln ist, die aber allemal hochdramatisch anmutet. Ein grün-gelbes, reich gemustertes Tuch dient als Draperie für ein ganzes Repertoire von Gesten: Mal sind die Hände zum deklamatorischen Gruß erhoben oder heben etwas empor; dann umfassen sie eine Lanze oder einen Schwertgriff, stützen den Körper ab oder ziehen das Stofftuch wie einen Vorhang zurück.

Kammerspiel mit Helden

Freie Hand beweist die Künstlerin auch bei ihren »Heldensagen« – in dieser Serie kombiniert Dornis biblische Gestalten wie David, Isaak oder Samson mit dem germanischen Drachentöter Siegfried und symbolischen Anspielungen auf Heroisches (»Hand«, »Harnisch«, »Macht«). Kennzeichnend auch hier, dass die ‘Haupt- und Staatsaktionen’ dieser historischen Stoffe sich in zurückhaltenden Gesten wie in einem Brennglas verdichten. Beispielsweise im Bild »Samson«, das nicht den (beinahe) unbesiegbaren Helden zeigt, sondern Delilas Hände mit einer abgeschnittenen Locke – der Berserker ist nur verwundbar, wenn er seiner Haarpracht beraubt wird. »In Anlehnung an archaische Themen und Vorbilder der Malerei umkreisen meine Bilder und Gedanken derzeit Krieg und Heldentum, Familie und Verrat, Religion und Opfer«, erläutert die Künstlerin. Sie betont, dass es die »kultischen Handlungen« sind, die ihr besonderes Interesse erwecken. Verbindet man solche Themen dank der traditionellen Historienmalerei mit der großen Bühne, mit Aufsehen erregenden Effekten und vielfigurigen Konstellationen, so begegnet einem in den »Heldensagen« von Ulrike Dornis das genaue Gegenteil: Es handelt sich um ein Kammerspiel, bei dem sich ins Detail vertiefen muss, wer eine Idee vom Ganzen erhaschen will.

Ich ist ein anderer

Der lakonische Zug, der diesen zeitgenössischen Historienbildern eignet, kehrt wieder in den Porträts, die im Schaffen der Künstlerin einen immer größeren Stellenwert behaupten. Auch hier gelingt es ihr, einem populären Darstellungstypus der Kunstgeschichte frisches Leben einzuhauchen: Das Doppelbildnis, das zwei eng verbundene Persönlichkeiten zeigt, meist Ehepaare oder Freunde, kehrt bei ihr als Zweiphasen-bild, als dupliziertes Soloporträt wieder. »Sonja« und »Agustin« sind in verschiedenen Perspektiven vor Augen geführt, teils sich überschneidend. »Ich ist ein anderer«, lautet die berühmte Formel Arthur Rimbauds, mit der er seine Sehnsucht nach kompletter Entgrenzung zum Ausdruck brachte. In den Porträts von Ulrike Dornis ereignet sich, paradox, das Gegenteil: Die Dargestellten treten aus ihrem singulären Dasein heraus und sind doch ganz bei sich.
Jörg Restorff

Ulrike Dornis
Arabeske

Ein Hauch von Orient durchweht die Gemäldeserie Arabeske von Ulrike Dornis – und das nicht zufällig. Impulsgeber der Malerei ist eine 1993 in Kairo erworbene Textilie. Ein rotgrundiges, satinartiges Tuch mit floraler Ornamentik und jenen zahllos verschlungenen Arabesken, die den Titel der Serie motivierten. Die Malerin verbrachte im Rahmen eines DAAD-Stipendiums zwei Jahre in der Nilmetropole, die in vielerlei Hinsicht inspirierend wirkten. Nun, Jahre später, ist es nur mehr der optische Reiz, die glänzende Oberflächentextur des Stoffes, der zu immer neuen malerischen Varianten und Studien reizt. Gleichwohl sind Assoziationen an morgenländische Kulturen und Traditionen in den Arbeiten konserviert, die uns bunt, schillernd und vielgestaltig erscheinen.

War das Tuch zu Beginn der Beschäftigung eher Sujet eines „klassischen“ Stilllebens, wird die Ornamentik später immer raumgreifender, füllt das gesamte Bildfeld, sprengt den Rahmen. Häufig sind es geradezu abstrakt wirkende Bilder, die entstehen, obgleich sie sich weiterhin getreu am stofflichen Vorbild orientieren. Verschiedenste Raumsituationen werden erprobt. Untergelegte Bücher, Tischkanten, Sofaecken geben dem Stoff eine räumliche Struktur vor, die sich im unterschiedlich brechenden Licht und durch Schattenbildungen farblich auswirken und immer wieder überraschende Wirkungen zeigen. Dabei sind die Bildausschnitte häufig so gewählt, dass das Arrangement erst entschlüsselt werden muss.

Ulrike Dornis erforscht und dokumentiert die Licht- und Farbwirkungen eines im Grunde wenig luxuriösen Stoffes. Ihr geht es nicht so sehr um eine Darstellung des Realen – vielmehr bietet das Motiv die Möglichkeit, unterschiedliche Farbkombinationen einander gegenüber zu stellen und variantenreiche Eindrücke zu schaffen. Bedeutsam ist hier der serielle Ansatz; die Darstellung des gleichen Motivs und der häufig gleichen Komposition in immer wieder neuen und überraschenden Farbvarianten. Manche Gemälde erinnern losgelöst vom Bildgegenstand an die Vogelschau einer nächtlich beleuchteten Stadt, andere verlieren sich im abstrakten oder beinahe monochromen Schwelgen des Stoffrapports und dessen Farbigkeit.

Der künstlerische Ansatz scheint mit Claude Monets bekannter 33teiliger Bildserie der „Kathedrale von Rouen“ (1892 bis 94 entstanden) konform zu gehen. Der Französische Maler hatte die verschiedenen Lichteinfälle und die tageszeitlichen Veränderungen an der Fassade des gotischen Gebäudes in impressionistischer Art und Weise dokumentiert und ausgelotet. Fast durchgängig hatte er den einen Standpunkt beibehalten und den gleichen Bildausschnitt gewählt.

Ähnlich wie beim Impressionismus ist die Wirkung auch der Gemälde von Ulrike Dornis auf Distanz angelegt. Von weitem gesehen dominiert ein staunenerregender Realismus. Bei näherer Betrachtung löst sich das Bild rasch in einzelne Pinselspuren auf. Der glänzende Stoff zerfällt in separate geradezu flüchtige Striche, erweist sich als malerische Illusion par excellence. Die Erfahrung des Orients und das eigentliche Motiv treten in den Hintergrund und ermöglichen eine freie und ungebundene Auslotung künstlerischer Mittel.
Dr. Martin Steffens

Sofortbilder und Innehalten

von Wolfgang Siano

Im Vorüber des malerischen Augenblicks ereignet sich die Dauer des Innehaltens, die im Bild zur Erscheinung eines Nachbildes aus der Erfahrung leibhaftiger Eindrücke wird. Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist die Differenz zwischen der organischen Trägheit des Auges und der sie unter- oder überbietenden Verlangsamung oder Beschleunigung durch die jeweiligen Verschlusszeiten der Kameramechanik zum Schauplatz der Selbstbehauptung von Malerei als Malerei geworden.

So auch bei den Ölbildern von Ulrike Dornis, die hier unter dem Titel Stille Leben zusammengestellt sind. In ihnen ist der Gedanke an die Technik der Kamera jedoch zurückgenommen; erst die Empfindung der Ambivalenz von Distanz und Nähe, die von den malerisch fokussierten Dingen ausgelöst wird, weist indirekt auf die Fotografie zurück. Aus der gegenständlichen Abbildlichkeit – als visuelle Referenz auf „Kunst“, „Technik“ und auf „natürlich“ wirkende Erscheinungsformen – treten Erinnerungen an die Spontaneität vorbewusster sinnlicher Erfahrungen von situativen Gegebenheiten der Dinge hervor. Es ist die Fülle der Ungeschiedenheit, auf die diese Ambivalenz zurückführt, die Fülle einer situierten Körperlichkeit, deren in der Malerei sich spiegelndes Oberflächenbewusstsein die Welt aus wiedergewonnenen Erinnerungen neu erschließt.

Diese „Erinnerungen“ zeigten und zeigen sich als reflektierte Erfahrungen in Prozessen des Umschlags von Statik in Dynamik sowie von Dynamik in Statik, und ihre Darstellungsweisen geben Aufschluss über die Veränderungen der jeweiligen Daseinskonzeptionen. Feierte das klassische Stilleben das Eigenrecht der Dinge als Ausweis der Selbstbehauptung eines sich emanzipierenden Bürgertums, so wurden im letzten Jahrhundert die Bildformen des informellen abstrakten Expressionismus als Ausdruck existentieller Selbsterfahrung gegen die Verselbständigung der Dinge geltend gemacht. Andy Warhol schließlich hob diesen Gegensatz auf, indem er sich selbst zum Ding unter Dingen erklärte, bis die militante Feministin Valerie Solanas die metaphorische Unwirklichkeit dieser ästhetischen Hülle zerschoss.

Andy Warhol war auch einer der ersten, die auf das Sofortbild der Polaroid-Kamera als Verdopplungsmodus einer sich medial permanent selbst verdoppelnden Realität setzte, und ein solches Polaroid war auch die Vorlage für das Ölbild, das Alice Neel nach seiner Operation von ihm mit nacktem Oberkörper, d.h. mit sichtbarer Narbe, anfertigte. Dieses Bild von Alice Neel, der heute wieder aktuell gewordenen amerikanischen Künstlerin, hält bildlich gesprochen die Wunde offen, die leibhaftiges Dasein als Erfahrungsmodus auch unter den Bedingungen einer digitalisierten Welt bedeutet.

Deren strukturelle Dimension ist selbst zum Rahmen im Rahmen von Bilderfahrung geworden und mit ihr werden die daraus resultierenden Bezüge komplexer, insbesondere dort, wo sie sich wie in harmlos scheinender Einfachheit „natürlich“ geben. Entsprechend hintergründig ist das Stille Leben, das Ulrike Dornis‘ Stilleben vergegenwärtigen. Ihre wie Tagebuchnotizen, wie Polaroid-Aufnahmen en passant festgehaltenen Alltagsmomente enthüllen zugleich die Abwesenheit und Verschlossenheit der Dinge, an denen das Vorüber körperlichen Daseins sich spiegelt. Nicht als vordergründige Assoziation eines memento mori oder als bildimmanente strukturelle Selbstbezüglichkeit, sondern als im und durch das Malen befreites Spiel.

Ulrike Dornis‘ Stille Leben verführen durch eine überraschende Erotik der Verschlossenheit von Transparenz, die sich in Gläsern und Paketen zeigt, in den Formen von Äpfeln und Birnen, von ge- und entfalteten Tüchern, vor allem aber von Handschuhen und von Wäsche, die als zweite Haut getragen werden. Sie alle überliefern ein Leben, das sich noch und wieder erzählerisch verstehen und weitergeben lässt.

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